Hike & Ride
Gipfelsturm auf über dreitausend Metern? Mit dem Motorrad kein Problem. Doch per pedes müssen die Höhenmeter hart erarbeitet werden. Eher spontan habe ich einen sommerliche Dolomiten-Ausritt mit einer frostigen Besteigung des Piz Boè kombiniert – mit Stativ, Selbstauslöser und im fortgeschrittenen Selfie-Modus.
Es knirscht bedenklich unter meinen Sohlen und noch ehe ich mir meiner misslichen Lage bewusst werde, versinke ich mit einem Bein ruckartig bis zur Hälfte des Oberschenkels in dem verharschten Schnee. Kaltes Wasser läuft mir in die Schuhe und wie die eisige Feuchtigkeit durch die Socken dringt, so sickert auch der leise Zweifel kalt in mein Bewusstsein. Umdrehen? Abbrechen, nachdem ich mir die Höhenmeter so mühselig erarbeitet habe? Soll dieses Schneefeld mein persönliches Waterloo auf dem Weg zum Gipfel sein? Gerade einmal zehn Meter hab ich geschafft, rund 50 liegen noch vor mir und wie es dann weiter geht ist genauso ungewiss wie der Ausgang meiner selbst auferlegten 3000er Mission. Zwischen den Wolkenfetzen die zunehmend schneller über die unwirtliche Hochalpinlandschaft fegen kann ich mein Ziel erahnen – irgendwie zum Greifen nah und doch gerade jetzt verdammt weit entfernt. Ich rappel mich auf, checke noch einmal den Track in meinem GPS-Gerät und stapfe weiter bergauf, mache mich leicht und versuche wie Legolas der Elb im »Der Herr der Ringe« über die Schneedecke zu schweben. Vergeblich, nur wenige Schritte weiter breche ich erneut ein. Während die düsteren Wolken den Gipfel des Piz Boè vollends verhüllen macht sich Resignation breit. Wäre ich doch bloß beim Motorradfahren geblieben.
Doch vielleicht sollte ich meine Geschichte von vorn erzählen, denn sie startet eigentlich drei Tage vor dem geplanten Gipfelsturm und schon die Anreise stand irgendwie unter keinem guten Stern. Statt wie geplant mit der Dauertest-Bonneville aus dem Redaktions-Fuhrpark los zuziehen, lenkte ich am Morgen der Abreise spontan meine alte Transalp aus der Garage in Richtung Süden. Denn just auf dem verregneten Weg zur Fahrzeugübergabe zog die Physik dem Kollegen B. auf der Rückreise aus dem Tessin im letzten Kreisverkehr vor Euskirchen heimtückisch das Vorderrad weg. Während der Fahrer glücklicherweise ohne Blessuren davon kam, landete die Triumph weniger glücklich auf der Schaltwelle und konnte anschließend zu keinem weiteren Gangwechsel motiviert werden.
Mein Tagesziel lag am Fuße der grandiosen Sellagruppe, wo Yamaha am nächsten Morgen zu einer Modellvorstellung einlud. Bis ins Allgäu kam ich bei wechselhaftem, aber vorwiegend freundlichem Wetter hervorragend voran, machte auf der Autobahn ordentlich Strecke und hing so – in der Langstrecken-Lethargie gefangen – meinen Gedanken nach. Als die ersten Alpengipfel über den Armaturen auftauchten, reifte in mir ein vermeintlich guter Plan: Dieses mal sollte es nicht bei den traumhaften Pässen der Sellarunde auf der Profilkante bleiben, nein, es müsste mal wieder ein Berg bestiegen werden. Aber jetzt nicht nur so ein schroff anmutenden Hügel, den Horden beflippfloppter Flachland-Bus-Touristen wie die Murmeltiere im Minutentakt entern. Ein bisschen knifflig dürfte es schon werden, etwas nach Abenteuer schmecken und ruhig ordentlich anstrengend sein. 3000 Meter über Null? Passt schon! Und zwar möglichst allein und unbehelligt von Menschenmassen.
Meine Transalp pflügte unbeeindruckt wie eine Arche für Fernweh und Alltagsfluchten durch die Fluten, zuckte nur gelegentlich wenn uns die Gischt der Gegenfahrbahn mit der Wucht einer anbrandenden Welle traf.
Hinter Innsbruck träumte ich schon von einer Biwak-Nacht unter dem unverschmutzen alpinen Firmament, doch das aufziehende Unwetter brachte mich zurück aus den Tagträumen. Am Brenner folgte das nasskalte Erwachen. Begleitet von dumpfem Grollen öffnete der Himmel seine Pforten und entließ Wassermassen scheinbar biblischen Ausmaßes. Meine Transalp pflügte unbeeindruckt wie eine Arche für Fernweh und Alltagsfluchten durch die Fluten, zuckte nur gelegentlich wenn uns die Gischt der Gegenfahrbahn mit der Wucht einer anbrandenden Welle traf. Reichlich durchnässt aber mit einem ungebrochenen Hunger nach Bergabenteuern erreichte ich am Abend und nach rund 900 km das Felsmassiv meiner Autobahn-Träume.
Der konkrete Plan wurde im warmen Hotelzimmer schnell geschmiedet. Der Piz Boè sollte es werden, er gilt mit 3152 m als der leichteste 3000er der Sellagruppe, was sicherlich an der Seilbahn liegt, die vom Sattel des Pordoijoch hoch zum Sass Pordoi führt und dabei mal eben 800 Höhenmeter vernichtet. Bei guten Bedingungen kann man den Piz Boè dann theoretisch in einer Stunde Fußmarsch erreichen. Soweit zur Warmduscher-Variante, denn echten Bergfexen mit mehr Sehnsucht als aktueller Bergerfahrung und einem Schreibtisch-generierten Energieüberschuss bietet sich vom Pordoi-Parkplatz aus eine steile Seilbahn-Alternative in Form eines gerölligen Ziegenpfades hoch zum Rifugio Forcella Pordoi. Von dort soll es laut Tourenbeschreibung rechtsherum zum Piz Boè gehen, der wiederum von jeweils zwei Seiten aus bestiegen werden kann. Das klang in meinen Ohren durchaus machbar.
Doch bevor die Bergstiefel geschnürt wurden, standen noch zwei Tage motorisierten Höhenmeter-Sammelns auf der Agenda. Sellarunde im und gegen den Uhrzeigersinn. Schnell und schräg mit der Yamaha Tracer 700 und einem ganzen Kollegen-Rudel am einen Tag, weiterhin schräg aber mit bewussten Stopps und in Foto- und Landschafts-Mission am anderen Tag alleine mit der Transalp. Ich bekam nicht genug von diesen Aussichten, fuhr quasi vom Sonnenauf- bis zum Untergang, inhalierte Kaiserwetter und Kurven und blieb überall dort stehen, wo ich bei zurückliegenden Dolomiten-Runden wegen Zeitdruck, Gruppendynamik oder Wetterkapriolen vorbeifahren musste. So kamen über die Tage zwar eher wenig Kilometer zusammen, dafür sammelte ich aber Landschafts-Schmankerl am laufenden Meter und konnte bei mehrmaligen Pordoijoch-Überquerungen schon ein Blick auf das anstehende Berg-Projekt werfen, meinem Sehensuchtsziel abseits des Pässerummels der mich an diesem Tag allerdings nachhaltig in den Bann zog.
Zwischen Arabba, Kurfar, Plan De Gralba und Canazei fuhr ich jede Kurve mindestens zweimal, entspannte zu Mittag auf den spärlichen Bergwiesen unterhalb der senkrechten Dolomit-Wänden, machte einen Abstecher zum aufgestauten Lago di Fedaia, entdeckte auf dem Weg dahin einen kleinen aber eindrucksvollen, Moos-umwachsenen Wasserfall und ließ meine Füße in den Fluss Avisio am Grund des Fassatals baumeln. Einen Kaffee hier, eine lokale Schinkensemmel da und schon riefen die nächsten Schräglagen, Foto-Motive, der nächste Benzin-Schnack auf der Passhöhe oder einfach nur ein gedankenverlorenes Innehalten und staunen über die atemberaubenden Formen dieser Landschaft.
Einer besonderst prägnanter dieser oft im Augenwinkel erspähten und bis dato nicht wirklich wertgeschätzten Orte ist der Karersee – oder Lago di Carezza – der zwar unmittelbar an der Straße unterhalb des Karerpasses liegt und trotzdem oft als verschwommener türkiser Fleck am Rande des Visiers verschwand. Mit seinen vielfältigen Grüntönen, dem Saum dichten Nadelwalds und den dahinter aufragenden, teils schneebedeckten Gipfeln der Latemargruppe, ist das See-Panorama, das sich beim Blick vom Nordwestufer aus eröffnet, in seiner klischeehaften Schönheit kaum zu überbieten. Als Postkarten-Highlight, aber auch wegen des schönen Abendlichts hatte ich mir das Seeufer als letzten Wegpunkt aufgespart. Erfreulicherweise hielt sich der Besucherandrang – wie übrigens auch auf den Passstraßen – halbwegs in Grenzen. Schöner wärs freilich alleine gewesen, doch genau solch ein ungestörtes Naturerlebnis soll ja die 3000er Besteigung mit sich bringen.
Mit dem weichen Licht am fast wolkenlosen Abendhimmel fielen auch langsam die Temperaturen. Zwischen den ufernahen Bäumen herrschte schon angenehme Kühle und die anschließende Fahrt zurück nach Canazei verbrachte ich in fast meditativem Kurven-Flow. Die Nacht brach blauschwarz und sternklar über das Sellamassiv herein, die Krümmer der Transalp knackten neben meinem Zelt und im Schein der Stirnlampe verschwanden die letzten Reste der Brotzeit zusammen mit einem genüsslichen Schluck Bier in meinem Mund. Zufrieden mit meinem Tageswerk und voller Vorfreude auf den Boè Gipfel zog ich die Reißverschlüsse des Zelts zu und rollte mich im Schlafsack zusammen.
Der nächste Morgen begrüßte mich nicht mehr ganz so freundlich. Der angekündigte Wetterwechsel war anscheinend schon im Gange und trieb mich zügig aus dem Schlafsack in den Sattel meiner Honda. Die gefühlt 500 Kurven auf den knapp 13 Kilometern von Canazei zum Pordoijoch spulte ich zügig und dank der vergangenen Tage mit einer traumwandlerischen Sicherheit ab. Auf dem noch vereinsamt daliegenden Parkplatz ließ ich die Honda zurück, verstaute das kleine Gepäck samt Kamera, ein paar Snacks und den Wasserreserven im Rucksack und machte mich – den Kopf im Nacken, um das ganze Ausmaß der Unternehmung optisch erfassen zu können – auf den steilen, steinigen Weg.
Auf den ersten Metern oberhalb der Seilbahnstation waren noch einige Leute unterwegs, doch mit jedem Höhenmeter wurden es weniger und irgendwann war ich allein. Endlich. Ganz klein konnte ich meine Transalp unten auf dem Parkplatz erkennen, weit über mir thronte der Pordoi und der zunächst noch recht gerade bergauf führende Weg endete in wildem Zickzack in der markanten Felsspalte rechts der Seilbahn-Bergstation. Obwohl ich noch letzten Herbst mit dem Mountainbike in den Dolomiten unterwegs war, hatte ich irgendwie verdrängt wie anstrengend man sich jeden Höhenmeter in der dünnen Höhenluft erarbeiten muss. Je größer die Entfernung zur nach wie vor akustisch präsenten Straße wurde, desto eher bekam ich das Gefühl, dass es eine ausgesprochen gute Entscheidung war, statt Benzin und Gummi heute eher Körperfett zu verbrennen.
Unterhalb der Pordoi-Steilwand traf ich auf die ersten spärlichen Schneeflecken. Nach der letzten Nacht im Zelt und den trotz Canazei-Tallage eher kühlen nächtlichen Temperaturen, war ich übrigens von meinen Biwak-Plänen abgerückt. Zu präsent erschienen mir die ungeplanten letzten Nächte bei Minusgraden im dafür etwas untermotorisierten und ohnehin ziemlich ausgelutschten Dreijahreszeiten-Schlafsack. Insgesamt machte ich mich eher underequipped auf den Weg, was einerseits den Platzverhältnissen, andererseits aber auch der Überzeugung geschuldet war, dass man es mit der Ausrüstung auch echt übertreiben kann: Die Bergstiefel, der wintertaugliche Schlafsack, die Dreilagen-Jacke, das Kletter-Material, die Schneeschuhe, der Biwaksack und auch die Gamaschen lagen zuhause in der Kiste. Zumindest letztere hätten mir mit den flachen Zustiegsschuhen und der kurzen Hose durchaus gute Dienste geleistet. Auch für die Tourenstöcke wäre ich durchaus dankbar, wie ich schon unmittelbar hinter dem Refugio feststellen musste. Der Weg, der ab hier unter vereistem Altschnee verborgen war, verlief zwar vorerst mehr oder minder auf gleichbleibender Höhe, doch quer zum Hang wurde die Trittsicherheit auf dem glitschigen Terrain zunehmend gefordert.
Da ich mir viel Zeit für Fotos nahm, lief ein italienischen Pärchen auf mich auf und überholte mich kurz darauf freundlich grüßend. Die beiden sahen in ihrer Funktionskluft und mit dunklem Berg-Teint so aus, als würden sie häufiger die Baumgrenze zu Fuß hinter sich lassen. Sah ich da einen skeptischen Blick auf meine nackten Beine? In einiger Entfernung querten sie vor mir die weite Senke zwischen Pordoi und Piz Boè. Angesichts des hohen Weißanteils im sich vor mir erstreckenden Geländes erschien mir die anvisierte einstündige Gehzeit zum Boè ziemlich optimistisch und mir fiel das anerkennende Nicken der Dame in der Campingplatz-Rezeption ein, als ich ihr mein Tagesprojekt mitteilte. Ihren Einwand, dass da oben gerade noch viel Schnee sei nahm ich zum jetzigen Zeitpunkt deutlich ernster, als noch am Morgen im Tal. Die Spuren des Pärchens verrieten mir, dass sie sich für die Route von Norden her, am Refugio Capanna Fassa vorbei zum Gipfel entschieden hatten. Sie soll länger aber dafür weniger steil hinauf zur beinah magischen 3000er Marke des Boè führen. Mein Plan die kürzere, steilere Variante von Süden her für den Aufstieg zu nehmen und nach Norden hin abzusteigen schien auf den ersten Blick nicht machbar zu sein. Der GPS-Track zeigte mir zwar die Richtung und in einiger Entfernung konnte ich auch die Stäbe der Wegmarkierung aus dem Schnee aufragen sehen, doch hätte sich in Anbetracht der Schneefläche vor mir durchaus eine berechtigte Sinnfrage stellen lassen.
Nun, was soll ich sagen, knapp 10 Meter weiter wurde ich für meinen Übermut bestraft – womit wir im narrativen Zeitraffertempo bei der eingangs beschriebenen Szene angekommen wären.Auf allen Vieren und reichlich zerknischt bringe ich den eisigen Motivationsdämpfer hinter mich und hab irgendwann wieder festen Fels unter den Sohlen. Ganz klein am Bildrand erkenne ich zwei farbige Punkte, die in der Zwischenzeit offenbar etwas besser voran gekommen sind. Der kalte Wind hat den Gipfel inzwischen wieder freigelegt. Es ist nicht mehr weit, dafür aber steil. An ausgesetzten Stellen schonen Stahlseile das Flachländer-Nervenkostüm, ein paar vereiste Stellen fordern erneut meine Trittsicherheit. Durch eine Wolkenlücke kann ich die weit unter mir liegenden Mäander der Passstraße wie eine mit dem dünnen Bleistift in die Landschaft gezeichnete Schlangenlinie erahnen und ich bin trotz widriger Bedingungen aus voller Überzeugung froh hier oben zu stehen. Mit den letzten Schritten zum Gipfelkreuz mache eine mentale Notiz bei der nächsten Unternehmung doch etwas tiefer in die Ausrüstungskiste zu greifen.
Es ist geschafft und es ist lausig kalt. Schnell ein Gipfel-Selfie, kurz das Display des GPS-Geräts abgelichtet – das glaubt mir ja sonst keiner – und schon mach ich mich an den Abstieg zum nördlich gelegenen Refugio Capanna Fassa. Es ist eine rutschig, unangenehm exponierte Angelegenheit. Ich verfluche lautstark meine Blauäugigkeit, wünsche mir Steigeisen oder zumindest Stöcke wie sie das italienische Pärchen mitführt, das mir just in diesem Moment entgegenkommen. Wir begrüßen uns erneut und plauschen kurz über das, was jeweils noch vor uns liegt. Sie warnen mich vor einem komplett vereisten Abschnitt und gestehen grinsend, dass sie schon an meinem Gipfelerfolg zweifelten, als sie aus der Entfernung sahen, wie ich das eisige Schneefeld in Angriff nahm. Zu meiner Berg-Eherenrettung umreiße ich in aller Kürze meine kombinierte Motorrad-Bergtour-Unternehmung, das damit einhergehende Ausrüstungs-Defizit und dass ich entgegen der Außenwirkung meines Kleidungsstils nicht gänzlich unerfahren in dieser Höhe bin, was sie mir wohl spätestens bei unserer Fachsimpelei über Kletter-Equipment abnehmen.
Der mit blankem Eis überzogene Fels hat es in sich, doch mit jedem Meter talwärts wird das Gelände weniger tückisch. Rund zwei Stunden später bin ich in Rufweite zum Refugio Maria auf dem Pordoi Gipfel und beschließe in Anbetracht der Zeit und des zunehmend durchwachsenen Wetters eine der letzten Gondeln talwärts zu nehmen. Ein wenig fuchst es mich schon, die letzten Höhenmeter nicht per pedes zu bewältigen.
Als ich meine Transalp in die erste Linksurve unterhalb des Sass Pordoi abwinkel, ziept es bisschen in meinen Knien und noch deutlicher in den Waden. Dazu macht sich eine wohlige Müdigkeit breit. Das letzte Abendlicht bricht sich im Mücken-verklebten Visier und zum entspannten geblubber des Vau-Zwos beschließe ich, das Motorrad – bei aller Liebe – auch in Zukunft gelegentlich mal stehen zu lassen.
Text & Fotos sind in ähnlicher Form im TOURENFAHRER Ausgabe 8/2017 erschienen. https://www.tourenfahrer.de/archiv/archiv/artikel/2017/8/ride-and-hike-64986/